Market Weekly - Europas wirtschaftliche Herausforderungen
Europa auf Orientierungssuche
Die Europäische Union sieht sich derzeit mit zahlreichen wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert. Nachdem die Region in den letzten Jahren von der Covid-19-Pandemie und dem Energiepreisschock als Folge des Ukraine-Konflikts geprägt wurde, zeigen sich nun erste Anzeichen einer Stabilisierung an der Inflationsfront. Die Konjunktur erholt sich jedoch nur zögerlich, insbesondere in den beiden grössten Volkswirtschaften Deutschland und Frankreich.
Das deutsche Geschäftsmodell leidet
Die deutsche Industrie, der grosse Motor der europäischen Wirtschaft jenseits des Rheins, verliert nun schon seit mehreren Quartalen an Fahrt. Die Industrieproduktion in Deutschland schwächte sich von Juni bis August weiter ab und ging im Vergleich zu den drei Vormonaten um 1,3% zurück. Das Industriemodell beruht hauptsächlich auf niedrigen Energiepreisen sowie auf dem Handel mit China. Die Entwicklung der Energiepreise und ein wirtschaftlicher Abschwung in China ziehen dieses Geschäftsmodell damit in Mitleidenschaft. Die deutsche Wirtschaft produziert weniger, wobei der industrielle Output derzeit etwa 10% niedriger ist als vor 2020. Infolgedessen rechnet das Wirtschaftsministerium für 2024 mit einem Rückgang des BIP um 0,2%, während ein positives Wachstum in der Eurozone erwartet wird. Damit hinkt der grosse Nachbar im Norden Europa hinterher, was eine neue, wohl auch negative Situation ist.
Frankreich gibt zu viel aus
Nach der grössten Volkswirtschaft Europas ist auch Frankreich einigen Turbulenzen ausgesetzt. Nach langen und schwierigen Diskussionen über die politischen Prioritäten des Landes wurde im Spätsommer schliesslich eine Regierung gebildet. Diese neue Regierung steht nun vor der Herkulesaufgabe, die Staatsausgaben, d.h. das für dieses Jahr erwartete Haushaltsdefizit von 6,1% mittelfristig auf die von der EU geforderten 3% des BIP zu senken.
Um sich den Vorgaben aus Brüssel allmählich anzunähern, sieht der Haushaltsvorschlag für das nächste Jahr Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen vor. Es lässt sich fragen, wie lange diese Sparmassnahmen politisch mitgetragen werden und ob die Bereitschaft zu tieferen Staatsausgaben anhält.
Im Jahr 2023 waren 66 der 100 grössten Unternehmen der Welt (nach Marktkapitalisierung) aus den USA.
Europas Innovationsfähigkeit wirkt abgehängt
Mario Draghi kennt sich aus, wenn es darum geht, die europäische Politik mit einer «Whatever it takes»-Rede aufzurütteln. Während der Eurokrise im Jahr 2012 tat er dies als E ZB-Präsident.
Am 17. September legte er vor dem Europäischen Parlament mit Unterstützung eines 393-seitigen Berichts die Probleme und Herausforderungen Europas erneut in gleich dringlicher Manier dar. Laut dem Bericht von Mario Draghi hat sich die Produktivität in Europa unter dem weltweiten Durchschnitt entwickelt. Dieser Rückstand ist der Hauptgrund dafür, dass Europa im Vergleich zu den USA an Wohlstand verliert. «Wir müssen die Innovation nach Europa zurückbringen», erklärte er in Brüssel. Im Jahr 2023 waren 66 der 100 grössten Unternehmen der Welt (nach Marktkapitalisierung) aus den USA. Das sind zwölf mehr als im Jahr 2003. Deutschland hat derzeit nur noch zwei Unternehmen unter den Top 100 der Welt, das sind drei weniger als vor 20 Jahren.
Europa befindet sich also nicht nur in Deutschland in einer industriellen Krise, sondern steht auch in Frankreich vor einem Schuldenproblem. Das zu einer Zeit, in der neue Investitionen in Zukunftstechnologien unerlässlich werden. Kann Europa diese Herausforderungen meistern und sich neu erfinden? Was wären die Folgen eines Status quo oder von Teillösungen auf diese Herausforderungen? Der Wechselkurs des Euros könnte dann eine schwere Last zu tragen haben. Während der letzten grossen Schuldenkrise im Jahr 2011 hatte der Euro stark an Wert verloren. Wenn diese Herausforderungen nicht angegangen werden, wird der Euro wohl noch etwas länger darunter leiden.